Die Sache mit dem „Schönen Händchen“

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Die Sache mit dem „schönen Händchen“!
Die Händigkeitsfindung ist ein sensibler Prozess in der Kindesentwicklung . . .

. . . und bei vielen Kindern verläuft sie glücklicherweise völlig ungestört, d.h. die Kinder benutzen ganz selbstverständlich ihre dominante Hand. Andere Kinder hingegen haben Probleme ihre Händigkeit zu finden.


Obwohl die Links- und Rechtshändigkeit dem Menschen angeboren ist, gibt es mehrere Gründe, warum einige linkshändige Kinder nicht mit ihrer dominanten Hand malen bzw. schreiben. Welche Hand ein Kind zum Malen und/oder Schreiben benutzt wird auch heute noch – meist unabsichtlich und gedankenlos – vom Umfeld mit beeinflusst.

Kommt es zu einer Beeinflussung oder Störung während der Händigkeitsfindung, können sich Handdominanz und Schreibhand unterscheiden. Dies wird dann als „umgeschulte Händigkeit“ oder „unerkannte Linkshändigkeit“ bezeichnet.

Folgen von Händigkeitsumschulungen können sehr vielfältig sein:
- Lese-Rechtschreibschwäche (z.B. legasthene Auffälligkeiten) 
- Sprachauffälligkeiten (z.B. Stottern)
- feinmotorische Probleme (verkrampfte Stifthaltung, Mal- und Bastelunlust)
- Rechts-Links-Unsicherheiten (z.B. Buchstaben- und Zahlendreher)
- Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisstörungen
- Verhaltensprobleme (Symptome, die häufig mit ADS/ADHS verwechselt werden)
- Einnässen, Nägelkauen, Zurückgezogenheit, Minderwertigkeitsgefühle . . .

Das natürliche Imitationsverhalten der Kinder spielt bei der Händigkeitsfindung eine wichtige Rolle. Kinder wollen nicht auffallen; sie wollen gerne alles richtig machen. So gleichen einige linkshändige Kinder ihren Handgebrauch dem der rechtshändigen Umgebung an. 
Diese Selbstumschulung betrifft eher besonders aufmerksame Kinder, die ihre Umgebung schon in den ersten Lebensjahren sehr genau beobachten.

Auch lassen sich einige linkshändige Kinder durch sprachliche Lenkung („Gib die richtige/schöne Hand!“) oder durch kulturelle Vorgaben beim Essen („Das Messer gehört in die rechte Hand!“) zum bevorzugten Gebrauch ihrer rechten Hand verleiten.
Ebenfalls können körperliche Voraussetzungen die Händigkeitsfindung erschweren: Kinder, die bei der Geburt unter einem - auch noch so geringen - Sauerstoffmangel litten, haben häufig Probleme ihre Händigkeit zu finden. Sie fallen oft durch langes, beidhändiges Hantieren auf. Bei ihnen besteht die große Gefahr den Handgebrauch der Umgebung einfach nachzuahmen. 

Andere Kinder mit einer schwach entwickelten Körperspannung (Tonusschwäche) müssen sich fast ständig beim Sitzen am Tisch mit einem Arm abstützen. Diese Aufgabe übernimmt hauptsächlich die dominante Seite. Somit ist für andere Tätigkeiten zwangsläufig nur die nicht dominante Hand frei. Dies führt dazu, dass Kinder ihre nicht dominante Hand für feinmotorische Tätigkeiten häufiger einsetzen und deswegen besser trainieren. Aufgrund der Annahme, die geübte Hand sei automatisch auch die dominante Hand, schätzen viele Eltern (ebenso Erzieher:innen und Lehrer:innen) die Händigkeit der Kinder nicht immer richtig ein. 

Das rechtshändige Malen ist kein eindeutiges Indiz für die Rechtshändigkeit eines Kindes! 
Die Händigkeit ist individuell in jedem Gehirn festgelegt.

Im Gehirn werden alle Bewegungen zeitlebens von der motorisch dominanten Gehirnhälfte geplant und kontrolliert, unabhängig davon welche Hand tatsächlich die Bewegung ausführt.

Auch wenn linkshändige Kinder ohne äußeren Druck scheinbar freiwillig rechtshändig schreiben, müssen ihre Gehirne mehr leisten als die Gehirne von nicht Umgeschulten. Rund 30 % mehr Energie benötigt das Gehirn, um mit der nicht dominanten statt mit der dominanten Gehirnhälfte den Prozess des Schreibens zu steuern

Wer zum Schreiben mit der rechten Hand „gezwungen“ wird, hat zusätzlich mit den Folgen des - meist gewaltsamen - Zwangs zu kämpfen. Nicht nur der Druck, sondern in erster Linie die Überforderung einer Gehirnhälfte durch das Schreiben mit der nicht dominanten Hand, kann Ursache unterschiedlichster Schwierigkeiten sein.

Kinder sind nicht frei in der Wahl ihrer Händigkeit, denn diese ist angeboren. Um diese unbeeinflusst zu finden und festigen zu können, benötigen sie ein Umfeld aus aufmerksamen, informierten Eltern, Erziehe:innen, Pädagogen:innen und anderen Bezugspersonen.

Nur wer weiß, dass jedes Kind seine Händigkeit finden muss und es bei diesem Prozess bestimmte Gefahren zu vermeiden gilt, kann Kinder hierbei unterstützen und gegebenenfalls frühzeitig professionelle Hilfe suchen.

Ein Blick auf das Spielzeug kann sehr hilfreich sein. Lenkt z.B. die Kurbel des Baggers den Handgebrauch?
Wo ist der Stift der Zaubertafel angebracht? Mit Spielzeug, welches rechts- und linkshändig benutzt werden kann (Kurbeln an beiden Seiten, Stift mittig) haben alle Kinder mehr Freude beim Spielen.

Für linkshändige Kinder sollten selbstverständlich geeignete Materialien (Scheren, Werkzeug, Dosenöffner, Kartoffelschäler . . .) bereitgestellt werden. Wenn Kinder spontan mit der linken Hand ausschneiden möchten, benötigen sie eine Linkshänderschere. Mit einem Anspitzer für Linkshänder:innen brechen auch die Stifte nicht mehr ab.

Die beabsichtigte Beeinflussung des Handgebrauchs zugunsten der rechten Hand wird heute erfreulicherweise fast von allen abgelehnt aber um die eben genannten Faktoren wissen immer noch zu wenige.
   
Die Händigkeitsfindung der Kinder wird maßgeblich von folgenden Faktoren mit beeinflusst:

Körperliche Voraussetzungen: Sauerstoffmangel während der Geburt, geringe Körperspannung
Umwelt: sprachliche Vorgaben: „richtige“ Hand, kulturelle Vorgaben: Tischmanieren, Lenkung aus Unkenntnis
und technische Vorgaben: Spielzeug, Werkzeug
Imitationverhalten: Lernen durch Nachahmung. 

Noch immer wird in unserer Gesellschaft der rechten Hand eine einseitig große Bedeutung zugeschrieben. 
Die Ablehnung einiger Kinder „Ich will aber kein Linkshänder sein!“ ist eine direkte Folge dieser Haltung. 

Wer würde denn in der Betrachtung seiner Füße einen Fuß wichtiger finden als den anderen?

Weitere Informationen:     www.lefthander-consulting.org    www.Judith-Bremer.de    www.linkehand.at

Literturtipps:
Einfach links schreiben“   Judith Bremer,  VAK-Verlag

„Ich mache alles mit links!“   Dagmar Geisler und Stephanie Gerharz,  Loewe Verlag

„Linkshändige Kinder richtig fördern“   Sylvia Weber,  Reinhardt Verlag

„Der umgeschulte Linkshänder“   Johanna Barbara Sattler,  Auer Verlag

„Musizieren mit links“   Walter Mengler,  Schott Verlag                                                           © 2021



© Judith Bremer, Dipl. Päd. Händigkeitsberatung, kontakt(ät)judith-bremer.de
    & Vera Hesse, Kita-Leitung, Händigkeitsberatung, vera.hesse(ät)web.de



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